Die alten Leute, die in „Chinageschichten“ zu Wort kommen, sind heute um die achtzig Jahre alt. Sie waren also 1949, als Mao Zedong auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Volksrepublik China ausrief, um die 20 Jahre alt. Damit gehören sie zur klassischen Aufbaugeneration ihres Landes. Sie haben noch ein Stück altes China erlebt, kennen noch das Ende der letzten Dynastie aus den Erzählungen der Eltern, wissen noch, wie geschnürte Füße aussahen und wie es in Peking zur Zeit der japanischen Besatzung zuging. Einige von ihnen haben ihre wichtigste Zeit im Bürgerkrieg auf der Seite der Kommunisten vor 1949 erlebt, andere sprechen am liebsten von der Zeit nach 1953, als in China Aufbruchstimmung herrschte. Einige sind kurz darauf fast verhungert, als Mao Zedong den „Großen Sprung nach vorn“ ausrief und eine der schlimmsten Hungersnöte der Geschichte auslöste.
In „Chinageschichten“ erzählen Menschen von der Kulturrevolution 1967 bis 1977, und Menschen, die ihre aufregendste Zeit in der Zeit der Öffnung Chinas seit den achtziger Jahren hatten, als das Land begann, ökonomische Fortschritte zu machen und wieder Ausländer nach China einreisen durften – sei es als Touristen, sei es, um dort zu arbeiten. 1989, als die chinesische Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens niedergeschlagen wurde, gingen die Protagonisten dieses Buches in Rente, sie haben aber nichtsdestotrotz interessante Sichtweisen auf die Öffnung Chinas seit den achtziger Jahren – darauf, was aus dem Land geworden ist, das sie sich einst erträumt hatten. Und nicht zuletzt auf ihre Enkel, die „brandneuen Menschen“, die in relativem Wohlstand aufgewachsen sind und noch nie die „Bitterkeit gekostet“ haben, wie sie sagen.
In diesem Buch kommen Menschen unterschiedlichster Gesellschaftsschichten vor: Unter anderen ein Bauer ein Sohn eines Lehrers in der Provinz Sichuan, der in Peking leitender Ingenieur wurde und mehrfach beruflich ins Ausland reiste, eine Tochter aus einer armen Pekinger Handwerkerfamilie, die in den fünfziger Jahren freiwillig aufs Land ging und dort ein besseres Land mit aufbauen wollte; ein Soldat, der im antijapanischen Krieg auf Seiten der Kommunisten kämpfte – sowie ein Pekingopernsänger, der im Peking vor der japanischen Besatzung auf eine Opernschule ging und während der Kulturrevolution Revolutionsopern sang.
Das Buch „Chinageschichten“ ist in der Tradition der Gesprächsprotokoll-Literatur ein Versuch der Annäherung an das Land „unterhalb“ der großen Politik, aus der Perspektive des privaten Lebens und der Vertracktheiten der Organisation des Alltags zwischen gesellschaftlichen und politischen Wandlungsprozessen, wie sie selten drastischer waren als in diesem letzten Jahrhundert in China, und individueller Selbstbehauptung und Glücksuche. Es bietet zugleich einen anschaulichen, spannenden Blick auf eine langsam aussterbende Zeitzeugengeneration, die in der überbordenden Medienberichterstattung des Westens über China kaum vorkommt, obwohl deren Lebensspanne sie als Zeitzeugen für die Geschichte des modernen China so wichtig macht. Diese Gesprächsprotokolle zeigen, dass die Möglichkeit, endlich zu Wort zu kommen, von den Gesprächspartnern gern wahrgenommen wird. Dabei gewinnt ihr Mitteilungsbedürfnis – die einfache Tatsache, dass ihnen in einem China, in dem sich derzeit allzu viel um den Aufstieg der sozialen Leiter und die Anhäufung von Wohlstand dreht, derzeit nur wenige zuhören - im Verlauf des Erzählens die Oberhand über ihre Zurückhaltung und Schüchternheit gegenüber der Autorin aus dem Westen.
In kurzen Einleitungen zu den jeweiligen Protokollen und der Beschreibung der Unterbrechungen der Gespräche ist nicht nur knapp der jeweilige Gesprächspartner und seine aktuelle Lebenssituation plastisch beschrieben, es werden auch immer wieder die Schwierigkeiten thematisiert, die die Gesprächspartner mit der Gesprächsituation hatten. Obwohl sich das Genre Gesprächprotokoll in China immer größerer Beliebtheit erfreut und in einem kleines Kreis von Künstlern und Autoren Einigkeit darin besteht, dass in China mehr Erinnerungskultur gepflegt werden sollte, ist es nach wie vor keine Selbstverständlichkeit, sein ganzes Leben mit allen Hochphasen und Rückschlägen, Glücksebenso wie Leiderfahrungen vor einer völlig Fremden auszubreiten.
In einem ausführlichen Vorwort beschreibt das Buch „Chinageschichten“ die Schwierigkeiten, die sich dabei ergaben, überhaupt alte Leute für dieses Projekt zu gewinnen, die bereit waren, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Es geht auch darum, eine urchinesische Tradition zu erklären: Dass es allgemein als unnütz und zerstörerisch gilt, über schlimme Zeiten zu sprechen, an denen man ohnehin nichts mehr ändern kann. In einem Glossar werden Orte, Personen und Sachverhalte erklärt, die sich dem westlichen Leser nicht unmittelbar erschließen. Im Anhang befindet sich eine Zeittafel, in der wichtige historische Eckdaten wie z.B. japanische Besetzung, Anti- Rechts-Bewegung, Großer Sprung nach vorn, Kulturrevolution und Niederschlagung der Demokratiebewegung erläutert werden. Das Buch wird außerdem über eine Landkarte Chinas verfügen, in der alle Provinzen und Städte eingezeichnet sind, die im Buch vorkommen. Weiterhin wird das Buch reichhaltig mit je einer Fotostrecke mit aktuellen Porträtfotos bebildert sowie Fotos aus den privaten Archiven.